reverser Geschrieben 3. Januar 2017 Teilen Geschrieben 3. Januar 2017 "Es ist Abend. Wir sind als Kursflug SR 629 vor zehn Minuten in Mailand gestartet. Die Föhnlage beschert der Alpensüdseite starke Bewölkung, die uns auch in 6000 m Flughöhe umgibt. Eingehüllt von modernster Technik, auf einem breiten Sitz angegurtet und wohlklimatisierte Luft atmend, habe ich - auf Saint-Exupérys Spuren - versucht, die bewußt und unbewußt erlebten Vorgänge in der Natur aufzuzeichnen, die sich auf diesem schönen Abendflug abspielen." Soweit das Vorwort eines Piloten namens H. Lüscher, veröffentlicht 1986 in einer Ausgabe der Zeitschrift "Cockpit". Der Text unter der Rubrik "Im Cockpit unterwegs" fährt folgendermassen fort: ""Jetzt haben wir's dann", bemerkt der Kapitän und zeigt auf das Wetterradar, an dessen unterem Rand die hellgrünen Flecken langsam verschwinden, die uns die Lage der Regenzonen vermitteln, die wir seit einigen Minuten durchqueren. Schneeregen prasselt unaufhörlich gegen die drei Zentimeter dicken Windschutzscheiben und zeichnet waagrechte weiße Striche auf den Seitenfenstern. Unter den Scheibenwischern und in den Ecken der Fenster staut sich Schnee und Eis. Noch ist es einheitlich grau draußen, nass, kalt, ungemütlich. Schlagartig ändert sich die Szene; wir schießen über den Abgrund der Wolke hinaus ins Nichts, eine mächtige Mauer komprimierter Feuchtigkeit hinter uns lassend. Und trotzdem scheinen wir stillzustehen, so plötzlich kommt dieser Wechsel von einigen Metern grauer Sicht zu diesem ungehinderten Blick in die Unendlichkeit. Wie ein Vordach schieben sich hoch über uns die Ausläufer der Wolkenfront der untergehenden Sonne entgegen, wobei die feinen Grautöne weit vorne in ein schmales rotes Band übergehen, das uns das Ende der Wolke erahnen lässt. Unter uns breitet sich ein wattiger Teppich kompakter Wolken aus, die zu Füßen "unserer" Wolke liegen und es bis auf einige kraftlose Aufblähungen nicht geschafft haben, zu ebensolcher Größe und Erscheinung zu werden, deren Wassertröpfchen genügend Kraft haben, um unsere Radarstrahlen zu reflektieren und als leuchtender Fleck auf dem Radarschirm präsentiert zu werden. Diese Wolken liegen ein paar tausend Meter unter uns; friedlich, ruhig, ja fast müde in sich zusammengesunken lehnen sie sich an die Alpen an. Die rundlichen weißen Hügel der Wolkenlandschaft verwandeln sich langsam in die schneebedeckten Bergspitzen der Alpen, die den schlafenden Wolken den weiteren Weg nach Norden verwehren. Aus dem Osten naht die Nacht. Dunkelheit kriecht der Unterseite des Wolkenvordaches entlang und verwandelt langsam alle die feinen Nuancen des grauen Spektrums in konturloses Schwarz. Aber auch die Bergspitzen können sich der Dämmerung nicht entziehen. Ihre Zeit ist um, sie müssen dem Schleier der Nacht, dem Dunst, der aus den Tälern aufsteigt und sie von unten her ausradiert, Platz machen. Nur die höchsten Berge können sich noch eine Weile der Umklammerung der Nacht entziehen, ihre Schneefelder leuchten noch hell, bis auch sie wenig später zu einem weiteren der unendlich vielen Grautöne degradiert werden, zu einem Teil der Nacht. Im Westen, zwischen den zugreifenden Händen der Nacht von oben und der Nacht von unten eingeklemmt und bedrängt, zwischen Tag und Traum hingezwängt, hält das schmale Band des Abendrotes in diffusen Farben die vorrückenden Grautöne noch für eine Weile auseinander und versucht den zum Aufgeben verurteilten Tag zu verlängern. Doch die Sonne hat diesen Teil der Erde für die Nacht freigegeben, einige kleine Wölkchen glühen noch am Horizont, wo die Sonne untergetaucht ist. Halbkreisförmig arbeitet sich die Dunkelheit vor und drückt das dunkelrot leuchtende Abendrot zu einer immer kleineren Linse zusammen, die schon nicht mehr genügend Leuchtkraft besitzt, um die ersten Sterne zu überstrahlen. Im Sinkflug drehen wir über Koblenz nach Osten, um auf das Instrumentenlandesystem des Flughafens Zürich-Kloten zu gelangen. Eine Hochnebelschicht verwehrt uns vorläufig den Blick auf den Boden. Alle Scheinwerfer werden ausgefahren und angezündet, die dünnen Wolken erstrahlen in frischem Weiß, und je näher wir der Oberfläche kommen, desto eindrücklicher wird unsere Geschwindigkeit anhand der vorbeiflitzenden Wolkenfetzen demonstriert. Einem kleinen Wolkentälchen folgend, sinken wir gemächlich in das wattige Weiß. Mit holprigem Schütteln reagiert das Flugzeug auf die Temperatur- und Feuchtigkeitsveränderung. Unter der Nebeldecke wird die Nacht noch eine Spur dunkler, unsere Scheinwerferstrahlen verlieren sich im Schwarz. Auf der Erde haben die Menschen bereits den Tag elektrisch verlängert, Tausende von Lichtern erleuchten ihre Umgebung oder geistern in der Dunkelheit umher, tastend, suchend, für kurze Zeit auslöschend, um an anderer Stelle wieder neu aufzutauchen, winzige Tagpunkte, die noch zwischen den samtschwarzen Fingern der zupackenden Nacht heraufleuchten. Ein strahlender Lichterbaum zeigt uns, wo auf dieser schwarzen Ebene die Anflugschneise ist, die zur Landepiste führt, die von intensiven Lichtern gesäumt und durchzogen ist. Dieses Stück erleuchteter Beton ist unser Ziel, unser Feierabend." Mir gefällt dieser Text - damit er nicht der Vergessenheit anheimfällt, habe ich ihn nochmals hervorgekramt und hier abgetippt. Gutes Neues Jahr allerseits, Richard 8 Zitieren Link zu diesem Kommentar Auf anderen Seiten teilen Mehr Optionen zum Teilen...
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