Thermikus Geschrieben 29. Oktober 2006 Geschrieben 29. Oktober 2006 Eine der entscheidenden Schwächen der deutschen Luftwaffe im zweiten Weltkrieg war das Fehlen von Langstreckenbombern. Während in den Flugzeugfabriken der Alliierten mit fortschreitendem Luftkrieg tausende schwere viermotorige Bomber der Typen B 17 „Flying Fortress“, Avro Lancaster, Consolidatet Liberator, Short Stirling oder Handley Page Halifax vom Band liefen, war auf deutscher Seite neben den Standard-Mittelstreckenbombern He 111 und Ju 88 nicht viel Berauschendes vorhanden. Der Einsatzradius deutscher Bomber war daher sehr begrenzt. Wohl gab es in der späteren Phase des Luftkrieges erhebliche Anstrengungen, die Entwicklung leistungsfähiger Fernbomber voranzutreiben, doch kamen diese Bemühungen im Endeffekt zu spät. Verschiedene Prototypen wiesen herausragende technische Neuerungen und Leistungen auf, die jedoch so gravierende Störanfälligkeiten zeigten, dass die Flugerprobung oft nicht von der Stelle kam und die Projekte versandeten. Nachdem U-Boot Kommandant Günther Prien mit seiner U 47 in einem tollkühnen Husarenstück in den extrem gesicherten Kriegshafen Scapa Flow der englischen Navy auf den Orkney Inseln eingedrungen war und mit seinen Torpedos ein Massaker unter der Home-Fleet angerichtet hatte (und dann auch noch ohne ein gekrümmtes Haar wieder von dannen zog), war eine solcher Schlag von See her nicht wiederholbar. Man überlegte sich daher, einen zweiten Angriff auf die in Scapa Flow liegenden englischen Kriegsschiffe aus der Luft zu führen. Mangels tauglicher Langstreckenbomber wurde das Projekt „Mistel“ forciert. Eine Mistel ist eine parasitäre Pflanze, die sich auf Bäumen einnistet und dort vom Saft des Wirtsbaumes lebend, üppig wuchernd knollenartige Verwachsungen bildet. Das Projekt „Mistel“ der Luftwaffe war im Grundgedanken ähnlich. Ein nahezu ausgedienter Bomber vom Typ Ju 88 erhielt statt seiner Pilotenkanzel einen Hohlladungs-Sprengkopf höchster Brisanz, der auch massivste Stahlbetonbunker von 20 Meter Stärke etc. mühelos durchschlagen konnte. Auf diesem so modifizierten Bomber platzierten die Ingenieure dann ein Jagdflugzeug vom Typ Me 109 oder Focke-Wulf 190. Die Steuerung des Bombers erfolgte durch Servomotoren, die über elektrische Kabel mit dem Jäger verbunden waren. Die nötigsten Instrumente für die Bedienung und Ueberwachung der technischen Funktionen der Ju 88 waren im Jagdflugzeug zusätzlich zu den eigenen Instrumenten eingebaut, was die Enge im Cockpit der Jagdflugzeuge noch unerträglicher machte. Die elektrischen Steuerkabel wurden mit einfachen Steckern zwischen den beiden Flugzeugen verbunden und mit Klebeband befestigt. Während des Zielanfluges über grosse Distanzen entnahm die Me 109 oder die Focke Wulf 190 ihren Treibstoff aus den Tanks des Bombers und hatte nach dem Ausklinken des Trägerflugzeuges den gesamten eigenen Sprit für den Rückflug zum Heimatflugplatz zur Verfügung. Dies bedeutete praktisch eine Verdoppelung der Reichweite. Die Ju 88 war auch als zweimotoriger Sturzkampfbomber konzipiert. Beim Anflug auf das Schiffs- oder Bodenziel erreichte das Gespann im Bahnneigungsflug eine Geschwindigkeit von rund 650 km/h. Nach dem Austrimmen des Bombers hielt dessen aktivierter Autopilot exakt Kurs auf das Ziel. Nachdem die ideale Entfernung für den Angriff von ca. 1000 Metern erreicht war, löste der Pilot des Jagdflugzeuges zuerst den Sprengbolzen für die hintere Strebe des Traggestelles zwischen Bomber und Jäger aus. Die Me 109 oder Focke Wulf 190 knickte hinten ein, das heisst, die Nase des Jägers geriet in Steigfluglage. Sekundenbruchteile später zündeten die Sprengkugellager der Hauptträger – das Jagdflugzeug kam von dem gegen das Bodenziel rasenden Bomber frei und drehte sofort ab, um dem gegnerischen Flakbeschuss zu entkommen. Während der mit einer enormen Sprengladung bestückte Bomber am Boden in einer gewaltigen Explosion verglühte, trat das Jagdflugzeug – alias „Mistel“ mit vollem Treibstoffvorrat seinen Rückflug an. Das Gespann von Bomber und darüber aufgesetztem Jagdflugzeug wirkte skurril und unwirklich. Der Start war äusserst heikel und es gab für die Piloten keine klaren Anweisungen, was im Falle eines Fehlstarts zu tun war. Wäre es bei einem Reifenschaden während des Startlaufs zum Ausbrechen und nachfolgendem sicheren Ueberschlag gekommen, hätte der hoch oben in seiner Me oder Focke-Wulf sitzende Pilot nicht die geringste Chance gehabt, den Crash zu überleben. Um Gewicht und Resourcen zu sparen, waren beim Bomber sogar die Radbremsen ausgebaut worden. Ein Traktor zog das Gespann vor dem Start bis zum Beginn der Piste. Bremsen waren dann ohnehin nicht mehr nötig. Die Bodenmannschaft musste vor jedem Start über die gesamte Startstrecke die Piste peinlich genau nach Gegenständen bis zum kleinen Steinchen absuchen und diese wegfegen, damit die hoch belasteten Reifen möglichst nicht beschädigt wurden. Trotz der aus der Not geborenen Pfiffigkeit dieser Bomber-Jäger-Gespanne wurde die neuartige Waffe nicht in erheblichem Ausmass eingesetzt. Das Projekt „Eisenhammer“, die Zerstörung von Kraftwerken und kriegswichtigen Teilen der sowjetischen Rüstungsindustrie im Hinterland Russlands wurde wegen der rund zehnstündigen Hinflüge der Gespanne und nachfolgender fünfstündiger Rückflüge der Jäger von der Prioritätenliste gestrichen. Gegen Kriegsende erlebten die „Mistel“-Einsätze nochmals einen Höhepunkt mit der Zerstörung der Oder-Brücken, um den Vormarsch russischer Truppen aufzuhalten. Dies konnten sie jedoch nur vereinzelt und für jeweils wenige Tage, da der Krieg bereits längst verloren war und auch die raffinierteste Waffentechnik nicht mehr daran ändern konnte. Dietwolf (Thermikus) Zitieren
huskymartin Geschrieben 30. Oktober 2006 Geschrieben 30. Oktober 2006 Siehe auch "Der Flugzeugschlepp" von Ernst Peter, 1981, ISBN 3-87943-781-5 Gruss Martin Zitieren
Eagle88 Geschrieben 30. Oktober 2006 Geschrieben 30. Oktober 2006 Sehr interessant, auch deine anderen Postings in Sachen "Geschichtsnachhilfe":) . Woher hast du solche "Gschichtlis"? Mfg Räffu Zitieren
Thermikus Geschrieben 30. Oktober 2006 Autor Geschrieben 30. Oktober 2006 Sehr interessant, auch deine anderen Postings in Sachen "Geschichtsnachhilfe":) . Woher hast du solche "Gschichtlis"? Mfg Räffu Raffu - ich habe mich jahrzehntelang intensiv mit allem befasst, was irgendwie mit Luftfahrt zu tun hat, habe unzählige diesbezügliche Literatur gelesen, hatte Kontakte zu damals noch relativ jungen ehemaligen Luftwaffenpiloten, die mir ihre Erlebnisse erzählten und heute ist das Internet eine wahre Fundgrube für alle nur denkbaren Informationen. Wenn man dann aus all diesen Informationsquellen einen Beitrag zusammenstellt, dann kommen dabei jene "Geschichten" zustande, die ich hier ins Forum stelle. Danke Dir - und gute Nacht! Dietwolf (Thermikus):008: Zitieren
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